Wer glaubt, dass die Augen wie von selbst funktionieren oder eine Brille jedes Sehproblem beheben kann, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Viele Menschen merken schon in jungen Jahren, dass sich die Sehkraft während des Studiums oder mit dem Einstieg in das Berufsleben verschlechtert. Müde, brennende und trockene Augen bei langen Phasen am PC sind keine Seltenheit. Selbst wer bis zur Lebensmitte Augen wie ein Adler besitzt, bemerkt plötzlich mit Bedauern, dass die Sehkraft in der Nähe nachlässt. Es gibt kaum noch jemanden, der im Laufe seines Lebens nicht mit Sehproblemen konfrontiert ist. Doch kann man deswegen von einer normalen Entwicklung sprechen?
Sehen ist nicht gleich Scharfsehen Die nachlassende Sehfähigkeit ist weniger Ausdruck einer organischen Schwäche oder eines natürlichen Alterungsprozesses, als vielmehr Hinweis auf eine einseitige Lebensführung, von der die Augen in besonderer Weise betroffen sind. Die Anforderungen an die Augen wachsen stetig durch die Bindung an den Monitor im Beruf. Und auch bei der Freizeitgestaltung verlagert sich das reale Erleben zusehends in eine virtuelle Welt. Doch virtuelles Erleben passiert nur im Kopf und lähmt den Körper. Man sitzt oft stundenlang regungslos auf einer Stelle und mit starrem Blick zum Bildschirm. Der Körper wird zur Bedienung digitaler Geräte instrumentalisiert, die Augen sind Transmitter der Information zum Gehirn. Ureigene organische Bedürfnisse nach Bewegung, Abwechslung und Entspannung werden kaum wahrgenommen und nicht umgesetzt. Die Sehfähigkeit wird auf die Funktion detailgenauen Sehens, das Scharfsehen, reduziert und massiv beansprucht.
Definition: ganzheitlich Sehen „Ganzheitliches Sehen bedeutet, das Sehen als Gesamtheit von funktionalen, mentalen und seelisch-emotionalen Prozessen zu verstehen. Die individuelle Sehkraft richtet sich dabei nicht nur nach optisch messbaren Kriterien, sondern ergibt sich aus dem Wechselspiel von inneren und äußeren Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen und bedingen.“ Es ist wichtig, das Sehen wieder als Teil des Gesamtsystems von Körper, Geist und Seele zu betrachten. Es ist eingebunden in einen Organismus, der zyklisch und prozesshaft reagiert. Grundlegend für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit ist nicht nur im Sehen ein Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe, Bewegung und Entspannung, Konzentration und Emotion.
Sehen mit allen Sinnen Innerhalb der fünf Sinne nimmt das Sehen eine Sonderstellung ein. Über die Augen werden die meisten Informationen aufgenommen. Daher wird gutes Sehen – ähnlich wie gutes Hören – als besonders wertvoll empfunden. Diese Gewichtung findet nicht nur zwischen den Sinnen statt, sondern auch innerhalb der visuellen Wahrnehmung. Eine besondere Rolle wird der Detailwahrnehmung durch die Fähigkeit des Scharfsehens beigemessen. Lässt die Sehschärfe nach, wird der „Sehfehler“ in der Regel mit einer Brille – wahlweise mit Kontaktlinsen – „korrigiert“, um die Sehleistung wieder auf 100 Prozent zu bringen. Andere Sehqualitäten wie Farb- und Kontrastsehen, Augenbeweglichkeit und Blickfeldweite spielen nur eine untergeordnete Rolle. Auch im täglichen Gebrauch liegt der Fokus auf dem Scharfsehen. Dies führt zu einer Vereinseitigung innerhalb des Sehsinns, bei dem eine Reihe von Sehqualitäten vernachlässigt und das Detailsehen überlastet wird. Bewegungsmangel, der Aufenthalt in geschlossenen Räumen, vor PC und Fernseher tragen wesentlich zu dieser Entwicklung bei. Um eine gute Sehkraft zu erhalten, brauchen die Augen die Anregung aller Sehqualitäten und eine Verbindung mit den anderen Sinnen.
Sehen mit Bewegung Die grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Augen funktionieren können, ist ein guter Stoffwechsel. Speziell die Netzhaut hat einen hohen Nähr- und Sauerstoffbedarf. Daher ist neben einer gesunden und vitalstoffreichen Ernährung regelmäßige körperliche Bewegung eine wichtige Voraussetzung für gutes Sehen. Körperliche Aktivität regt den Kreislauf an, vertieft die Atmung und wirkt gegen Muskelverspannungen. Dies gilt es besonders bei sitzenden Tätigkeiten zu berücksichtigen, die häufig mit Schulter-Nacken-Verspannungen einhergehen. Muskelverspannungen in diesem Bereich behindern die Durchblutung zu den Augen und können zu einer Unterversorgung führen.
Sehen mit Empfindung „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ weiß ein altes Sprichwort. Das gilt für das innere wie das äußere Sehen. Was wir sehen oder uns auch nur vorstellen, löst unmittelbar Gefühle in uns aus: ein hilfloses Baby, ein geliebter Mensch, eine ungerechte Tat. Steht beim Sehen das Scharfsehen im Mittelpunkt, nimmt man ihm seine spielerische, verträumte, mitfühlende Seite. Der Sehsinn wird darauf reduziert, ob man Details einer Sache scharf erkennt. Dies wird als Voraussetzung empfunden, im Alltag zu funktionieren, und ist verbunden mit Hektik, Anspannung und Leistungsdruck. Der offene Fokus, intuitives Sehen, das Sich-Einfühlen in die Umgebung, wird weniger bewusst gepflegt. Damit verliert sich schnell der Zugang zu Qualitäten wie visuelle Spontanität, Leichtigkeit und Kreativität, die nicht nur für die Augen entspannend und erholsam sind.
Sehen mit Verstand Die Augen sind das erste Glied in der Kette der visuellen Wahrnehmung. Sie reagieren auf Lichtreize, die über den Sehnerv an das Gehirn geleitet werden. Je präziser die Informationen sind, die von den Augen übermittelt werden, desto müheloser werden die Seheindrücke verarbeitet. Verringert sich die Sehleistung beispielsweise durch Ermüdung, braucht das Gehirn mehr Energie, um die Informationen zu verarbeiten. Müde und angestrengte Augen reduzieren die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit unmittelbar. Daher beeinflussen unzureichende Pausen bei anstrengenden Sehtätigkeiten wie der Bildschirmarbeit den Arbeitsprozess ungünstig. Der dauerhafte enge Fokus geht langfristig mit einem unnatürlichen Sehverhalten und eintönigen Denkprozessen einher. Eine enge, ausschließlich leistungsorientierte Sichtweise führt nicht nur zu visueller und mentaler Überlastung und kann ein Faktor für Burnout sein, sondern behindert assoziatives und innovatives Denken. Auf der Strecke bleiben dabei Motivation, Kreativität und spielerische Leichtigkeit.
Entspannt durch bewusstes Sehen Ein vitaler Sehsinn erfordert es, abwechselnd alle Qualitäten im Sehen zu nutzen und anzuregen. Er braucht die Verbindung von intuitiven und kreativen Sehprozessen mit dem leistungsorientierten funktionalen Sehen, das im virtuellen Geschehen erforderlich ist. Im ganzheitlichen Sehen werden alle Sehpotenziale geschult und mit den anderen Sinnen vernetzt, die Beweglichkeit gefördert und das Zusammenspiel von Augen und Gehirn belebt. Für den Einzelnen bedeutet ganzheitliches Sehen im Alltag, intensiver wahrzunehmen, das Sehen zu schulen und zu genießen. Für Betriebe besteht die Herausforderung darin, (Zeit)Räume für spielerisches, kreatives Sehen zu schaffen und zu füllen. Sie profitieren von der Entwicklung einer Pausenkultur mit bewusstem Sehen in doppelter Weise. Einerseits tragen sie im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung zu Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter bei. Andererseits werden Motivation, Kreativität und Produktivität bei den Mitarbeitern angestoßen, was wiederum dem Betrieb zugutekommt.
Autorin: Barbara Brugger, Bremen, www.ecovital.de
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