Improved-Reading-KW III von IV: Regression vermeiden, innere Stimme reduzieren
Das unabsichtliche Zurückspringen resultiert in der Regel aus mangelndem Vertrauen in die Zuverlässigkeit der eigenen Fixierungen sowie aus übertriebenem Perfektionismus: Wir springen zurück, um uns die Beruhigung zu verschaffen, dass wir wirklich nichts verpasst haben – neue Informationen gewinnen wir dabei meist nicht. Rechtschreibfehler, schlechter Satzbau oder auch Wort-für-Wort-Lesen können weitere Ursachen für Regressionen sein. Bei unbekannten Begriffen oder Namen mag ein kurzes Innehalten allerdings manchmal sinnvoll sein, um sich das Wort einzuprägen.
Denken Sie an das „Kopf-Kino“ beim Lesen: Sie verfolgen gespannt einen Film, der unwiderruflich weiterläuft. Auch wenn Sie nicht immer aufmerksam sind, bekommen Sie in der Regel trotzdem alles mit, was Sie für das Verständnis des Inhalts benötigen. Ständiges Stehenbleiben und Zurückspulen würden den logischen Ablauf, Ihr Konzentrationsvermögen wie auch Ihren Sehgenuss erheblich beeinträchtigen. Genauso ist es beim Lesen auch!
Bei anspruchsvollen Inhalten lösen sich anfängliche Schwierigkeiten oft im weiteren Verlauf des Textes von alleine auf. Oder Sie stellen später fest, dass es sich um unwichtige Details handelt, die keine Vertiefung wert sind. Orientieren Sie sich beim Lesen daher stets nach vorn, und nehmen Sie einen vollständigen Sinnabschnitt als Ganzes auf (Kapitel, Absatz). Frühestens dann sollten Sie einzelne Stellen noch einmal nachlesen oder markieren.
Mit einer konsequenten Ausrichtung nach vorn gewinnen Sie zugleich das nötige Tempo, um sich beim Lesen stärker auf das reine Sehen zu verlassen: Der Durchschnitt unserer Teilnehmer erreicht am Kursende ein Lesetempo von 550 WpM – bei diesem Tempo kann das Gelesene nicht vollständig mitgehört werden. Das üblicherweise erzielte hohe Verständnis zeigt aber, dass ein guter Auswahlprozess getroffen wurde.
Wir beschränken uns also auf eine bloße Reduzierung (nicht Abschaffung) des Mithörens. Das Mithören jedes einzelnen Wortes lenkt Ihre Aufmerksamkeit in gleicher Weise auf wichtige wie auf unwichtige, zum Textverständnis überflüssige Wörter. Alles mitzuhören kostet also nicht nur Zeit, sondern behindert auch Ihr Verständnis. Dies gilt besonders für die 50 kleinen „Arbeitspferdwörter“ (der, die das, ich, Du, mein, dein, und, oder, …), die ein Drittel jedes gedruckten Textes ausmachen. Wie oft haben Sie diese kleinen Wörter im Laufe Ihres Lebens schon gelesen…? Vermutlich mehr als 30-millionenmal! Sie brauchen sie daher ganz bestimmt nicht mehr zu „hören“, zumal sie in den meisten Fällen ohnehin aus dem Kontext heraus vorweggenommen werden. Eine periphere Erfassung dieser kleinen Wörter genügt daher im Normalfall.
„Visuelles Begreifen“ ist nichts anderes als das, was Sie beim Erfassen von gegenständlichen Objekten sowie von Verkehrszeichen, Werbelogos und Satzzeichen immer schon getan haben! Probieren Sie diese Technik vor allem beim Überfliegen („Skimmen“) von Texten aus, wo es ohnehin nur auf den Überblick ankommt (bei optisch vollständiger Texterfassung). Sie haben dies im Kurs beim Training mit dem Rate Controller geübt, meist im Bereich über 600 WpM, wo Mithören nur noch begrenzt möglich ist. (Vielleicht gehen Sie einmal auf unsere Alumni-Seite, um dies noch einmal zu üben?)
Hören Sie die wichtigeren Wörter ganz bewusst mit! Stummes oder lautes Vokalisieren hilft dabei, schwierige Fachbegriffe, unbekannte Wörter, Namen etc. besser im Gedächtnis zu verankern – als wäre es ein hörbarer Textmarker. Auditive Lerntypen sind zum Textverständnis auf die innere Stimme stärker angewiesen; aber sie sollten nicht jedes einzelne kleine Wort „mithören“. Freunden Sie sich mit Ihrem „kleinen Mann im Ohr“ an, aber verweisen Sie ihn in seine Schranken.
Wenn Sie es einmal erlebt haben, wie es sich „anfühlt“, Texte rein visuell aufzunehmen, können Sie das Vertrauen schöpfen, es auch beim alltäglichen Lesen häufiger zu praktizieren. Die Verbindung zwischen „innerlich hören“ und „verstehen“ ist tief in uns verankert, weil sie den Ursprung unseres Leseprozesses bildete. Es ist eine gewohnheitsmäßige, keine zwingend notwendige Verbindung.
Erst mit der Reduzierung des Mithörens kommen die Vorteile der Vermeidung der anderen Lesefehler richtig zur Geltung: Solange wir noch fast alles mitsprechen, „chunken“ wir nicht gut und werden durch das niedrige Tempo unkonzentriert, was die Regression unterstützt.
Eine kleine Anregung: Lesen Sie hin und wieder einzelne Texte ganz bewusst vollständig mit der inneren Stimme – lassen Sie sich jedes einzelne Wort auf der Zunge zergehen! Vermutlich werden Sie feststellen, dass der Prozess des inneren Hörens sowie die gleichförmige Ausrichtung Ihrer Aufmerksamkeit selbst auf unbedeutende Wörter Ihrem Textverständnis eher abträglich sind. Gleichwohl können Sie mit Gewinn Gedichte oder Literatur auf diese Weise lesen – vor allem, wenn Sie dabei alte und neue Lesetechniken miteinander kombinieren.
Bild von antony_mayfield Flickr