Freies Lesen 2

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Die drei größten Fehler beim Lernen
Vor einiger Zeit hatte ich eine Seminarteilnehmerin, die drei Tage vor einer wichtigen Abschlussprüfung in Betriebswirtschaftslehre an ihrer Universität stand. Sie war entsprechend nervös, aber entschlossen, die Doppelbelastung – Seminar und Prüfungsvorbereitung – zu meistern. Abends nach einem anstrengenden Seminartag und sogar in den längeren Seminarpausen griff sie zu ihren Aufzeichnungen und vertiefte sich darin. „Die nächsten beiden Nächte werde ich bis um drei, vier Uhr in der Frühe lernen. Wenn ich das nicht tue, habe ich das Gefühl, nicht gut vorbereitet zu sein“, sagte mir die junge Frau.
Damit beging sie leider gleich drei Fehler, bei denen sie den Erkenntnissen der Gedächtnis- und Lernforschung zuwider handelte.
Erstens: Die junge Frau versuchte, sich zwei Inhalte fast gleichzeitig einzuprägen, nämlich zum einen das, was sie in meinem Seminar lernte, zum anderen den Stoff für die BWL-Prüfung. Das ist keine gute Idee, denn es kann sein, dass der eine Gedächtnisinhalt den anderen behindert. Die Experten sprechen von Interferenz. Noch viel anfälliger für Interferenz werden wir, wenn sich die Inhalte ähneln, wenn wir also eine Stunde lang italienische Vokabeln pauken und unmittelbar danach Spanisch, das dem Italienischen sehr ähnelt.
Nun hat die Evolution die Interferenz nicht herausgebildet, um uns beim Lernen spanischer und italienischer Vokabeln zu ärgern. In vielen Fällen ist sie sinnvoll. So muss ich mir in meinem Fitnessstudio nur für die Dauer meines Aufenthaltes merken, in welchen Spind ich meine Sachen eingeschlossen habe. Die Lage des Spindes, den ich vor drei Tagen benutzt hatte, sollte ich besser vergessen haben, damit ich nicht ziellos durch die Umkleidekabine irre.
Zweitens: Die BWL-Studentin aus meinem Seminar lernte mehrere Stunden am Stück, so wie es viele von uns gehandhabt haben, wenn in der Schule oder an der Uni eine Prüfung anstand. Das könnte man der jungen Frau noch nachsehen, falls es nur darum geht, den Stoff für diese Prüfung bereit zu haben. Wahrscheinlich wird sie das Gelernte schneller und zu einem großen Teil nach der Prüfung wieder vergessen. Leider ist unser Schul- und Universitätssystem darauf ausgerichtet, genau diese Art des Lernens zu befördern. Viele von uns haben vermutlich einmal für eine Prüfung gepaukt und nach den großen Ferien nichts davon mehr im Kopf behalten. Als noch fataler erweist sich diese Art des Lernens in der beruflichen Bildung, denn dort kommt es besonders darauf an, neues Wissen dauerhaft zu verankern. Wenn wir aber nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wollen, ist es sinnvoller, in kleinen Einheiten über einen längeren Zeitraum zu üben.
Drittens: Die junge Frau aus meinem Seminar schlief aufgrund ihres Lernpensums kaum länger als vier Stunden pro Nacht. Das ist viel zu wenig, denn Lernen findet im Schlaf statt. Im Schlaf festigt unser Gehirn die Gedächtnisinhalte. Das liegt daran, dass das Gehirn zum Abspeichern jene neuronalen Netzwerke benötigt, die tagsüber damit befasst sind, aktuell eingehende Informationen zu verarbeiten. Die Signale würden sich also in die Quere kommen, wenn sie gleichzeitig bei wachem Bewusstsein verarbeitet werden müssten. Unsere Alltagserfahrung, dass wir uns Dinge besser merken können, wenn wir ausreichend schlafen („eine Nacht darüber schlafen“), wurde in Experimenten sehr oft wissenschaftlich bestätigt.
Jan Born, Direktor am Institut für Neuroendokrinologie an der Universität Lübeck, ist Deutschlands bekanntester Schlafforscher. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ erklärte er, was im Schlaf in unserem Gehirn passiert: „Zunächst wird das, was tagsüber aufgenommen wird, in einem temporären Speicher, abgelegt. Im Schlaf werden die Informationen reaktiviert, und diese Reaktivierung stimuliert dann den Transfer der Information in den Langzeitspeicher. Aber: Nicht alles wird in den Langzeitspeicher übertragen. Sonst würde das Gehirn wahrscheinlich platzen. Wir nutzen den Schlaf, um gezielt bestimmte Informationen vom temporären in den Langzeitspeicher zu transferieren.“ 
Dabei konnten die Forscher zeigen, dass während des Schlafes die gleichen Areale des Gehirns aktiv wurden, die auch beim Abspeichern der Gedächtnisinhalte gearbeitet haben; und zwar besonders im Tiefschlaf, also eine Phase, während der wir vermutlich nicht träumen. Um diese Tiefschlafphase zu verbessern, schlägt Jan Born vor: „Wer im Wachzustand viele Informationen tankt, schläft in der darauf folgenden Nacht tiefer. Das gilt nicht nur fürs Lernen, sondern auch für Eindrücke aus einer interessanten Umgebung. Natürlich hilft neben geistiger auch körperliche Anstrengung.“ Der Schlafforscher hat zusammen mit seinen Kollegen Probanden Vokabeln lernen lassen. Ein Teil der Versuchsteilnehmer durfte danach schlafen, die anderen mussten wach bleiben. Die Schläfer merkten sich die Vokabeln besser und behielten sie länger im Gedächtnis als die Vergleichsgruppe. Im fMRT zeigte sich zudem, dass bestimmte Areale der Großhirnrinde beim Abfragen der Vokabeln bei ihnen aktiver waren als bei den Unausgeruhten.
Genau genommen hat die junge Frau in meinem Seminar noch einen vierten Fehler begangen. 
Es handelt sich um den gleichen Fehler, dem wir erliegen, wenn wir uns an einem schönen Tag in den Garten setzen oder ins Schwimmbad gehen, um für eine Prüfung zu lernen. Es geht nicht in erster Linie darum, dass Sie im Schwimmbad ständig abgelenkt sind und es sich deshalb nicht um den idealen Ort des Lernens handelt. Vielmehr haben Wissenschaftler festgestellt, dass wir uns in einer Umgebung, in der wir das Wissen abgespeichert haben, auch leichter an dieses Wissen erinnern. So haben Forscher in einem Experiment Probanden gebeten, Wortlisten beim Tauchen auswendig zu lernen. Es stellte sich heraus, dass die Teilnehmer sich später unter Wasser an mehr Wörter erinnern konnten als an Land. Im Schwimmbad zu lernen, bietet sich also nur dann an, wenn Sie für Ihre Schwimmmeister-Prüfung pauken sollten.
Viele Menschen wissen um diesen Umstand intuitiv. Wenn wir zum Beispiel vergessen haben, was wir im Keller holen wollten, gehen wir zurück in die Wohnung in jenes Zimmer, wo uns der Gedanke gekommen war, etwas aus dem Keller holen zu müssen. Und prompt fällt es uns wieder ein.
Text aus: Markus Reiter, Schlaue Zellen, 2012, S. 76ff. Wir danken dem Autor herzlich für seine freundliche Genehmigung, diesen Text verwenden (und kürzen) zu dürfen.

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