Kapitel I: Lesen lernen muss man zweimal!
Wie wichtig ist die Geschwindigkeit des Lesens?
„Zu langsame Leser haben demnach Schwierigkeiten, den Sinn des Gelesenen zu erfassen, weil sie durch ihre zögerliche Lektüre nicht genügend Informationen im Arbeitsgedächtnis speichern können. Am Ende des Satzes angekommen, wissen sie sozusagen nicht mehr, was sie am Anfang des Satzes gelesen haben.“ (Rosebrock/Nix, Grundlagen der Lesedidaktik, 2008, S. 37).
Ein zu langsamer Leser hat demnach Verstehensprobleme, weil er nicht genügend (detaillierte) Informationen im Arbeitsgedächtnis halten kann. Eine kohärente Vernetzung der verschiedenen Informationen im Zuge der Generierung eines mentalen Modells des gelesenen Satzes oder Textabschnittes ist so nicht möglich […]. Auch können nun die Selbstüberwachungsprozesse (self monitoring) bei der Lektüre nicht mehr greifen, da die Differenzierung zwischen Text und mentaler Konstruktion nicht mehr reflexiv geleistet werden kann […]. Die Unverzichtbarkeit von Lesegeschwindigkeit für das Textverstehen sollte aber nicht dazu verleiten, ein absolut hohes Lesetempo anzustreben […]. Vielmehr sollte eine flexible grundlegende Lesegeschwindigkeit erworben werden, mit der der Leser situativ auf die jeweiligen Textgegebenheiten reagieren kann.“ (Rosebrock/Nix, Forschungsüberblick, 2006, S. 7).
„D.h., durch das Schnelllesen können Informationsverluste während des Verarbeitungsprozesses vermieden und die wichtigen Textinhalte besser im Gedächtnis behalten werden.“ (Essig-Shih, Effekte, 2008, S. 58).
„Eine Steigerung der Lesegeschwindigkeit wirkt sich positiv auf das Textverstehen aus: […]. Der Grund für diesen hohen Zusammenhang könnte darin liegen, dass durch eine effiziente Worterkennung Kapazität für höhere Verständnisprozesse frei wird.“ (Artelt/Dörfler, Förderung von Lesekompetenz, 2010, S. 19).
„Die Anzahl und Größe der Sakkaden beim Lesen ist durch die Beschaffenheit des Schriftbildes sowie durch die Aufmerksamkeit und das Vorwissen des Lesers gesteuert. Sind die Buchstaben klar und deutlich erkennbar, so führt das Auge nur wenige Sakkaden aus, während bei schwer erkennbaren Buchstaben mehr und kleinere Sakkaden zum ‚Abscannen‘ nötig sind. Dasselbe passiert, wenn die Wörter und ihre Bedeutungen dem Leser bekannt sind und er ein geübter Leser ist; dann führt das Auge weniger und größere Sakkaden aus als im anderen Fall. Dies bestimmt die Geschwindigkeit, mit der unser Auge über den Text gleitet.“ (Roth, Bildung, S. 224)
„Beim Schnelllesen wird „immer nur ein Teil der Buchstaben, meist die Buchstaben am Anfang und am Ende des Wortes, tatsächlich erkannt […] – die anderen werden ‚hinzugedacht‘. (Roth, Bildung, S. 226).
Vorteile eines Schnelllesetrainings
Eine aktuelle Studie kommt zu dem Schluss, dass ein Schnelllesetraining sehr wirksam sein kann – selbst bei Legasthenikern:
„Israelische Forscher […] haben ein computergesteuertes Training vorgeschlagen, das die Lesefähigkeit erwachsener Legastheniker erheblich verbessern könnte. Nach Abschluss der 24-tägigen Übungsphase lasen die Teilnehmer im Schnitt so schnell wie typische Leser; auch im Textverständnis kamen sie auf Normalniveau. Der von den Wissenschaftlern der Universität Haifa beobachtete Effekt hielt mindestens sechs Monate an.“ […]
„Standardisierte Tests zu Leseverständnis und Textbeherrschung bestätigten den er-hofften Übungseffekt: Nach ungefähr zwölf Einheiten von einer guten Viertelstunde Länge (drei pro Woche) erreichte die Gruppe der legasthenischen Probanden das Niveau typischer Leser ohne Training. Die Vergleichsgruppe von Lesern ohne Legasthenie, die dasselbe Programm absolvierte, vervierfachte in der Zwischenzeit ihre Lesegeschwindigkeit. Eine ähnlich positive Wirkung zeigte sich beim Leseverständnis. Auch hier erreichten die Legastheniker nach Verlauf der 24 Übungstage Normalniveau; Nichtlegastheniker verzeichneten ebenfalls leichte Verbesserungen.
Zum Vergleich bewältigten weitere 30 Probanden während der Trainingsphase das gleiche Lesepensum wie die Testgruppe, allerdings ohne zeitlichen Beschränkungen unterworfen zu sein – hier blieb ein Effekt völlig aus. Die Forscher schlussfolgern daraus, dass der Zeitdruck entscheidend ist.“ […]
„Welchen Veränderungen der Leistungszuwachs zu verdanken ist, sei allerdings nach wie vor offen. Bei vielen Legasthenikern, die als Kind kein effektives Lesetraining erhalten haben, hätten sich nachteilige Leseroutinen eingeschliffen, beispielsweise verharren sie deutlich länger auf einzelnen Wörtern oder springen zu oft im Satz zurück. Zeitdruck könnte die Teilnehmer dazu zwingen, diese ineffizienten Mechanismen zu Gunsten besserer aufzugeben.“ (Dönges, Schnelllesetraining, 2013, S. 16f.).
Kapitel II: Sinngruppen / Chunks erfassen
Ist es möglich, mehrere Wörter gleichzeitig zu sehen und zu verstehen?
„Die Befunde lassen sich insgesamt zu der Aussage zusammenfassen, dass Wörter beim Lesen in gewissen Grenzen parallel verarbeitet werden können. Wir haben gerade eine Serie von Experimenten abgeschlossen, deren Ergebnisse erstmalig Belege für eine tatsächliche Gleichzeitigkeit bei ‚paralleler‘ Wortverarbeitung liefern.“ (Heller/Radach, Leseforschung, 2005, S. 146).
„Man kann einem großen Teil der genannten Kritikpunkte begegnen, wenn man statt eines Spotlights der Aufmerksamkeit von einem Aufmerksamkeitsgradienten ausgeht, innerhalb dessen mehrere Wörter parallel verarbeitet werden können […]. Das aktuelle SWIFT-Modell von Kliegl und Mitarbeitern ist stark von diesem Gedanken beeinflusst. Eine noch radikalere Alternative stellt das gerade in einer ersten Version entwickelte Glenmore-Modell von Reilly und Radach (2003) dar. Es soll wichtige Phänomene der Okulomotorik beim Lesen durch eine Integration visueller und kognitiver Verarbeitungsprozesse erklären.“ (Heller/Radach, Leseforschung, 2005, S. 146).
„Die Vervollkommnung der Lesetechnik beim stillen Lesen führt zu einer Vergrößerung der Augenspanne vor allem in horizontaler Richtung, also einer Zunahme der Länge des Zeilenabschnitts. Somit verringert sich die Anzahl der Augensprünge im Leseprozess. […], jedoch wird es einem geübten Leser durch die Berücksichtigung der semantischen Gesamtheit der Textumgebung trotzdem mühelos gelingen, auch die weniger deutlichen Sequenzen rechts und links vom Fixationspunkt zu erkennen.“ (Nerius, Deutsche Orthographie, S. 411).
„Das Lesen wird flüssiger, wenn das Gehirn mehr und mehr lernt, Laute und Buchstaben automatisch zu verbinden und schließlich kontextabhängig zu variieren. Schließlich werden ganze Wörter spontan gelesen und sogar Gruppen von Wörtern.“ (Roth, Bildung, 2011, S. 226).
Radach/Günther/Huestegge vertreten die Meinung, dass „innerhalb der aktuellen Blickspanne mehrere Wörter parallel verarbeitet werden“ können.
(Vgl. Radach/Günther/Huestegge, Blickbewegungen, 2012, S. 187).
Sinngruppen (Chunks) erfassen – der optimale Leseprozess!
„Die Bildung von Chunks ist eine gute Methode, den Flaschenhals der Informationsverarbeitung zu erweitern. Besonders linguistische Recodierungen [hier: Neuverschlüsselungen von Informationen zu neuen Einheiten] sind effizient.“
(Lukesch, Psychologie, 2001, S. 89).
Peripheres Sehen
„Die zweite Informationsquelle ist das periphere Sehen. Wenn an einem gegebenen Fixationsort Informationen über Merkmale der folgenden Wörter vorliegen, (beispielweise über Wortlänge und Anfangsbuchstaben), könnte dies zusammen mit kognitiven Prädikationen ausreichen, um zu ‚erraten‘, was das nächste Wort bedeutet, und es könnte übersprungen werden.“ (Radach, Blickbewegungen, 1996, S. 25).
Kapitel III: Weniger Regression und „mentales Mitsprechen“
Häufiges Zurückspringen / Regressionen als Merkmal ungeübten Lesens
„Rückläufige Augensprünge sind aber fast stets ein Ausdruck einer Störung des im Normalfall in schrittweiser Kontinuität voranschreitenden Verstehensprozesses.“ (Nerius, Deutsche Orthographie, 2007, S. 412).
„Geübte LeserInnen unterscheiden sich von Leseanfängern in so gut wie allen Bewegungsaspekten. Leseanfänger benötigen insgesamt mehr Sakkaden, längere Fixationspausen und eine höhere Anzahl an Regressionen.“ (Garbe/Holle/Jesch, Texte lesen, 2009, S. 117).
„Außerdem kann man lernen, den Blick nicht zu den Wörtern zurückkehren zu lassen, die man schon überflogen hat.“ (Dehaene, Lesen, 2010, S. 29).
Kontext und Vorerwartungen entscheidend für vorwärtsgerichtetes Lesen
„Wir erkennen auch hier das für Wahrnehmen und Erkennen grundlegende Prinzip, dass im ersten Schritt aufgrund der Voraussage bzw. Vorerwartung ein vorläufiger Wahrnehmungsinhalt entsteht, wobei es auf die Minimierung des Aufwands ankommt. Eine kurze Wahrnehmung weniger Buchstaben und weniger Laute genügt oft, um dasjenige Wort und seinen Inhalt zu aktivieren, das aus Sicht der Vorerfahrung am wahrscheinlichsten passt.“ (Roth, Bildung, 2011, S. 226).
Zur wissenschaftlichen Erläuterung der Begriffe „Voraussagen“ bzw. „Vorhersagen“ vgl. Hawkins, Intelligenz, 2006:
„‘Vorhersage‘ bedeutet, dass die Neuronen, die an der Wahrnehmung […] beteiligt sind, aktiv werden, bevor sie tatsächlich sensorischen Input erhalten.“ (S. 111)
„Alle Vorhersagen werden durch Erfahrung erlernt.“ (S. 147).
„Schnelles Lesen beruht darauf, dass man ‚mit einem Blick‘ abschätzen kann, welches Wort vorliegt, und dann die wahrscheinlichste Bedeutung im Sprachgedächtnis aktiviert […].“ (Vgl. Roth, Bildung, 2011, Zitat S. 226.)
Man kann vielfach davon ausgehen, dass das Gehirn zahlreiche „Sinnlücken“ von selbst ergänzt. Dies gilt nicht nur für das Lesen, sondern für unsere gesamte Realitätswahrnehmung. (Vgl. Frith, Gehirn, 2010).
Sprechgeschwindigkeit
Diese liegt im Allgemeinen bei 180–200 Wörtern pro Minute. (Vgl. Spalek bzw. Drenhaus in: Höhle (Hg.), Psycholinguistik, 2012, S. 56 bzw. S. 96.)
Ist das innere Mitsprechen beim Lesen (Subvokalisieren) immer notwendig?
„Mittlerweile zeichnet sich ein Konsens ab: Beim Erwachsenen gibt es beide Lesewege [den phonologischen und den lexikalischen], die simultan aktiviert werden. Wir alle verfügen über einen direkten Zugang zu den Wörtern, was es uns erspart, sie vor dem Verstehen im Geiste auszusprechen. […] Demnach arbeiten der lexikalische und der phonologische Weg der Wortverarbeitung parallel und unterstützen einander.“ (Dehaene, Lesen, 2010, S. 39).
„Vergleichsstudien beider Patiententypen betätigen, dass es zwei Zugangswege zum Lesen gibt. Doch vor allem beweisen sie, dass keiner der beiden Wege allein ausreicht, alle Wörter lesen zu können. Der direkte Weg von den Buchstaben zu den Wörtern und deren Sinn ermöglicht es, die meisten hinreichend häufigen Wörter zu lesen, versagt aber bei neuen, nicht zum mentalen Lexikon gehörenden Wörtern.“ (Dehaene, Lesen, 2010, S. 53).
„Heute stimmen die meisten psychologischen Modelle darin überein, dass gekonntes und flüssiges Lesen aus eben dieser engen Abstimmung der beiden Lesewege hervorgeht.“ (Dehaene, Lesen, 2010, S. 53).
„Wenn es also darum geht, neue Wörter lesen zu lernen, ist allein der phonologische Weg brauchbar.“ (Dehaene, Lesen, 2010, S. 40).
Zum mentalen Lexikon
Das mentale Lexikon ist der „Speicher des sprachlichen Wissens im Langzeitgedächtnis“. Die Bedeutung eines Worts, seine Funktion im Satz, sein Schriftbild, sein Klang, seine unterschiedlichen Formen – das mentale Lexikon speichert alle Informationen, die wir über uns bekannte Wörter besitzen. Vgl. Müsseler, Psychologie, 2008, S. 476 [Zitat auf S. 494]).
Das Wort ist dort jedoch nicht als Ganzes auf einer Art Liste abgespeichert, sondern „als eine Menge unterschiedlicher Eigenschaften, die eng miteinander verbunden sind und im Normalfall gleichzeitig zur Verfügung stehen.“ Aktuell stellt man sich das mentale Lexikon als ein „Netzwerk untereinander verbundener Knoten“ vor. (Vgl. Spalek in: Höhle [Hg.], Psycholinguistik, 2012, Zitate auf S. 55 und 57).
Kapitel IV (+ III): Sinnsignale und Vorausschau – Erwartungen aufbauen
„Das Gehirn ist bemüht ein möglichst schlüssiges Modell der Welt zu liefern. Was nicht passt, wird passend gemacht. Dafür füllt das Gehirn nicht nur Lücken auf, es rechnet auch voraus, was in der Zukunft zu erwarten ist. […] ‚Wir schließen daraus, dass das Gehirn nicht einfach nur auf Signale aus den Sinnenorganen wartet. Stattdessen versucht es aktiv, mögliche Sinneseindrücke vorherzusagen. Treffen die Vorhersagen zu, kann das Gehirn die tatsächlich eintreffenden Informationen besonders effektiv verarbeiten‘, sagt MPI-Direktor Wolf Singer.“ (Kupferschmidt, Die große Illusion, 2010).
Kapitel V: Mit flexiblen Lesestrategien die wichtigen Aussagen erschließen
„Strategien sind Handlungskonzepte, die relativ unabhängig von konkreten Aufgabenstellungen zur Verfügung stehen und zum Erreichen von Zielen dienen.“ (Hessisches Kultusministerium, Lese-Info 1, S. 8).
„Eine wichtige Möglichkeit der Steigerung der Lesekompetenz ist das Training von Lesestrategien […].“ (Badel/Valtin, zit. nach Kruse, in: Bertschi-Kaufmann, Lesekompetenz, 2007, S. 184).
„Tieferes Verstehen eines Textes, der nicht allein auf leicht verfügbarem Weltwissen beruht, bedarf der intentionalen und strategischen Steuerung des Lernprozesses. […] Die nicht prinzipiell automatisch ablaufenden Prozesse beim verstehenden Lesen werden unter dem Begriff ‚Strategie‘ zusammengefasst.“ (Artelt/Dörfler, Förderung von Lesekompetenz, 2010, S. 28; vgl. auch die ausführliche Darstellung von Lesestrategien in diesem Aufsatz).
„Angelehnt an allgemeine Modelle der Selbstregulation beim Lernen werden auch beim Lesen die drei Phasen unterschieden: vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen. Diese Einteilung nach dem Zeitpunkt des Strategieeinsatzes im Leseprozess kann sowohl kognitive als auch metakognitive Strategien beinhalten.“ (Artelt/Dörfler, Förderung von Lesekompetenz, 2010, S. 29).
„Die Unverzichtbarkeit von Lesegeschwindigkeit für das Textverstehen sollte aber nicht dazu verleiten, ein absolut hohes Lesetempo anzustreben […]. Vielmehr sollte eine flexible grundlegende Lesegeschwindigkeit erworben werden, mit der der Leser situativ auf die jeweiligen Textgegebenheiten reagieren kann.“ (Rosebrock/Nix, Forschungsüberblick, 2006, S. 7).
Kapitel VI: Systematisch Wissen erarbeiten / Gedächtnis
Begrenztes (Kurzzeit-)Arbeitsgedächtnis optimal ausschöpfen
„Der Begriff chunk geht auf Miller (1956) zurück und bezeichnet ein Gedächtnisphänomen. Da aufgrund der begrenzten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses […] jeweils nur eine eingeschränkte Menge von Informationen auf einmal gespeichert werden kann, werden diese Informationen häufig zu Gruppen bzw. chunks zusammengefasst, als solche abgespeichert und […] auch auf diese Weise wieder abgerufen. […] Je mehr solcher chunks vorhanden sind, desto schneller, automatischer und fehlerfreier verläuft die Verarbeitung, also sowohl die Wahrnehmung als auch die Produktion. […] Es zeigt sich, dass es aufwändiger sein kann, einzelne Items abzurufen als umfangreiche in Form von chunks abgespeicherte Sequenzen.“ (Aguado, Imitation, 2002, S. 189).
„Newell (1990) bezeichnet chunking als eine Form der Datenorganisation im hierarisch aufgebauten Gedächtnis. […] Mustererkennung ist bekanntlich ein wichtiges Kennzeichnen von Expertise.“ (Aguado, Imitation, S. 190).
„Im Wesentlichen besteht Sequenzlernen darin, dass Assoziationen zwischen Elementen gebildet werden, so dass die jeweils nächsten Elemente immer besser antizipiert werden. Dieser Antizipationsprozess führt dazu, dass sich gut gelernte Subsequenzen bilden (Chunking), die eine längere Sequenz in mehrere Teile zerlegen.“ (Iring Koch in: Funke/Frensch, Handbuch, S. 515).
„Das Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis bildet den berüchtigten „Flaschenhals“ unseres Bewusstseins bzw. unserer Aufmerksamkeit; es ist für die berühmten „fünf plus-minus-zwei-Elemente“ des amerikanischen Psychologen George Miller verantwortlich, die wir gleichzeitig im Bewusstsein behalten und mit denen wir aktuell arbeiten können. (Miller 1955). Neueste Forschungen kommen auf einen Durchschnitt von dreieinhalb solcher Elemente (Marois und [S. 142] Ivanoff 2005). Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um drei bis fünf Namen oder Zahlen, sondern um Bedeutungseinheiten (englisch chunks), was dazu führt, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses erheblich erweitert werden kann, wenn wir bewusst oder intuitiv bestimmte Sachverhalte zu einfacheren Bedeutungseinheiten (englisch chunking genannt) oder mithilfe von Gruppierungen und Musterbildungen, „Eselsbrücken“ oder geeigneten Assoziationen mit Vorwissen verbinden können (z.B. eine räumliche Anordnung abstrakter Dinge).“ (Gerhard Roth, Bildung, S. 141f.)
„Nicht immer verläuft das Zusammenspiel von Arbeitsgedächtnis und freien Gedanken allerdings zufriedenstellend. „Wer die Gedanken schweifen lässt“ meint Levinson, „der muss wissen, dass er damit Ressourcen verbraucht.“ So kann es dazu kommen, dass man beispielsweise am Ende einer Lektüre nicht weiß, was man eigentlich gelesen hat. Den Forschern zufolge ist man jedoch dem Arbeitsgedächtnis und seiner Kapazitätennutzung nicht völlig ausgeliefert. Letztendlich bestimmt der Mensch, wie er seine Ressourcen einsetzt, indem er die Prioritäten selber setzt. Sollten Sie also jetzt nicht wissen, was Sie gerade gelesen haben, versuchen Sie es einfach noch einmal. Wenn Sie wirklich verstehen wollen, was in diesem Text steht, dann sollte es funktionieren. Über die Aufmerksamkeit, die Sie einer Aufgabe widmen, so die Forscher, können Sie ihr Arbeitsgedächtnis beeinflussen.“ (Max-Planck-Gesellschaft, Arbeitsgedächtnis, 2012, eigene Hervorhebung).
Gedächtnis: Ist das Drei-Speicher-Modell noch aktuell?
Wenngleich es inzwischen verschiedene Gedächtnismodelle gibt, ist der Bezug auf das „klassische“ Drei-Speicher-Modell noch aktuell (vgl. Roth, Bildung, 108; bei Roth auch ausführliche Darstellungen zur zentralen Kategorie der Aufmerksamkeit und der wichtigen Rolle der Emotionen beim Lernen).
Der Stand der Forschung wird mit folgendem Zitat umrissen: „Sind die Tage des Standardmodells also gezählt? Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Es gibt auch Forschungen neueren Datums, die das bisherige Modell stützen. Doch zumindest die herkömmliche Vorstellung eines starren und geordneten Speichers wirkt aus heutiger Sicht antiquiert. Vorbei sind die Zeiten, in denen man das Gehirn als einen Computer mit zentralem Prozessor ansah. Vielmehr arbeitet es mittels flexibler neuronaler Netzwerke, die sich kurzfristig zusammenschließen, um bestimmte geistige Leistungen zu vollbringen.“ (Christian Wolf, Flüchtige Erinnerungen, 2010, S. 85).
Wortschatz: kann nicht hoch genug geschätzt werden…!
„Die semantische Verfügbarkeit von Wörtern in ihrer Buchstabengestalt ist wichtig für die Geschwindigkeit und für die kognitive Mühelosigkeit, in der sie identifiziert werden können.“ (Rosebrock/Nix, Lesedidaktik, 2008, S. 18).
„Besonders bedeutsam ist die Rolle der Vorerfahrung. Sie ermöglicht dem mit der Sprache Vertrauten, mit hoher Geschwindigkeit gesprochene oder geschriebene Sprache zu verstehen. Das Gehirn erkennt dabei Sprache nicht Laut für Laut oder Buchstabe für Buchstabe, sondern ‚errät‘ aufgrund des Vorwissens, was das Ganze wohl bedeuten mag.“ (Roth, Bildung, 2011, S. 227)
Verschiedenes
Lesen lernt man am besten durch Lesen?
Warum die Lesemenge das Leseverständnis beeinflusst, zeigen Möller/Schiefele, Motivationale Grundlagen, 2004. Einen der Gründe sehen sie darin, „dass häufiges Lesen die Leseeffektivität, zum Beispiel die Lesegeschwindigkeit bzw. -flüssigkeit, steigert. Durch höhere Effektivität bzw. Automatisierung des Leseprozesses wird das Arbeitsgedächtnis entlastet, und es stehen mehr Ressourcen bereit für […] tiefer gehende Verarbeitungsstrategien, das Identifizieren der Hauptgedanken, das Ziehen von Schlussfolgerungen und die Verknüpfung des Gelesenen mit vorhandenen Wissensbeständen.“ (S. 121).
Eigene Analysen von Improved Reading auf Basis von ca. 20.000 Kursteilnehmern haben ergeben:
Teilnehmer, die mehr als drei Stunden täglich lesen, haben schon zu Beginn des Trainings eine 25 % höhere Leseeffizienz, als Teilnehmer, die weniger als eine Stunde am Tag lesen.
Vorteile einer Automatisierung des Leseprozesses
„Je weiter die Worterkennung automatisiert ist, die Leseflüssigkeit zugenommen hat, desto mehr kognitive Ressourcen stehen für das Verstehen des Textes, d. h. das Ziehen von Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen, die Überwachung des eigenen Verständnisses beim Lesen und den Einsatz von verstehensförderlichen Strategien zur Verfügung.“ (Artelt/Dörfler, Förderung von Lesekompetenz, 2010, S. 19).
„Für das Lesen wird argumentiert, dass durch eine Automatisierung der
hierarchieniedrigen Dekodierprozesse überhaupt erst kognitive Ressourcen
für höhere Verstehensprozesse frei werden.“ (Rosebrock/Nix, Forschungsüberblick, 2006, S. 6).
„Als Kennzeichen einer automatisierten Dekodierfähigkeit wird gemeinhin ein immer
größer werdender Fokus der im Leseprozess visuell erfassten Einheit angesehen […].“
(Rosebrock/Nix, Forschungsüberblick, 2006, S. 6).
Optimales Studieren eines Textes
„ […] Und jetzt, zum Schluß optimales Studieren eines Textes. Es gibt ein Rezept, das Sie beherrschen müssen, und das meist ganz sträflich verletzt wird. […]
Das Rezept lautet: Sie lesen erst einmal flüchtig den Text, um zu sehen, worum es überhaupt geht. Außerordentlich wichtig. Einmal runterlesen, ohne Anspruch auf tieferes Verständnis. Wenn Sie anfangen, das tiefere Verständnis gleich im ersten Kapitel zu suchen, dann kommen Sie nicht zum letzten. Sie müssen überhaupt wissen, wo geht das hin, und dann werden Sie schon sehen, zwei Drittel können Sie sich schenken. Lesen Sie den Eingang, und lesen Sie das Abstract, und lesen Sie den Schluß, und dann haben Sie es meist. Jedenfalls bei den Naturwissenschaften ist das häufig so.“ (Roth, Wie funktioniert mein Gedächtnis? Rede an der FU, 16. Oktober 2002).